15
Als Faith die Polizeistation verließ, war sie irrsinnig wütend. Die meiste Zeit über hatte sie ihr Temperament einigermaßen gezügelt. Gray hatte während der gesamten Hinfahrt auf sie eingeredet, daß sie aus Prescott wegziehen solle. Sheriff McFane hatte ebenfalls befunden, daß sie hier womöglich nicht mehr sicher sei, da sie allein wohne und die nächsten Nachbarn weit entfernt seien. Faith hatte dem entgegnet, daß, wenn sie ginge, die Drohungen auch verschwinden würden. Auf diese Weise würden sie niemals herausfinden, wer es gewesen war. Der Schuldige würde sich darüber ins Fäustchen lachen, wie gut seine Taktik gewirkt habe. Diese Befriedigung wolle sie ihm jedoch nicht verschaffen.
Sheriff McFane hatte zugeben müssen, daß ihre Schlußfolgerung logisch sei und ihr Mut beachtenswert, aber daß sie die Situation möglicherweise unterschätze: Sie sei tatsächlich in Gefahr.
Dem hatte sie zugestimmt, aber auf ihrer Ansicht der Dinge beharrt. Jetzt, wo sie den ersten Schock verdaut hatte, konnte sie Ursache und Wirkung klar voneinander trennen. Die tote Katze bedeutete, daß sie der Wahrheit, was mit Guy tatsächlich geschehen war, sehr nahe gekommen sein mußte. Wenn sie jetzt aufgäbe, würde sie die Wahrheit nie herausfinden. Der Sheriff und Gray glaubten, daß jemand sie belästigte. Sie aber wußte genau, daß die Sache um ein Vielfaches ernster war als das. Sie mußte der Versuchung widerstehen, ihnen von ihren Vermutungen über den Hintergrund der Katze und der Drohbriefe zu erzählen. Wenn bekannt wurde, daß sie einen Mord an Guy Rouillard vermutete, würde das den Schuldigen warnen. Dann würde es viel schwieriger werden, ihn dingfest zu machen. Sie schwieg, aber ihre Frustration machte sie nervös. Sheriff McFanes Argumente konnte sie ignorieren, aber Grays gingen ihr an die Nieren. Seine anfänglichen Überredungskünste hatten sich in hartnäckige Befehle gewandelt, als sie die Polizeiwache verließen, um wieder zu ihrem Haus zurückzufahren.
»Zum allerletzten Mal: nein!« schrie sie mindestens schon zum fünften Mal, während sie einstiegen. Die Leute drehten sich nach ihnen um.
»Mist«, murmelte Gray. Für einen Mann, der den Klatsch nicht aufrühren wollte, hatte er sich heute ziemlich unvorsichtig benommen. Seinen Jaguar übersah man nicht so leicht, und auch Faith war eine Frau, nach der man sich umschaute. Nicht wenige würden bemerkt haben, daß er sie heute in die Stadt gefahren hatte, mit ihr auf die Wache gegangen war und sie mit ihr zusammen wieder verlassen hatte, ganz davon zu schweigen, daß sie ihn anbrüllte. Aber jetzt konnte er daran nichts mehr ändern. Und wenn er noch einmal mit derselben Situation wie heute konfrontiert wäre, dann würde er wieder genauso reagieren.
Faith rammte die beiden Gurtschnallen zusammen. »Ich weiß, daß du weder mit der Katze noch mit den Briefen irgend etwas zu tun hast«, sagte sie ärgerlich. »Aber du bist dir dennoch nicht zu schade, die Sache zu deinen Gunsten hinzubiegen, nicht wahr? Du wolltest mich gleich am ersten Tag hier verscheuchen, und es verletzt deine männliche Ehre, daß ich mich nicht deinem Willen beuge.«
Er sah sie gefährlich ruhig an, während er den Wagen um den Platz lenkte. »Das glaubst du doch wohl selbst nicht«, erwiderte er ruhig. »Wenn ich wollte, könnte ich dich in einer halben Stunde hier weg haben. Aber ich habe mich dagegen entschieden.«
»Tatsächlich?« fragte sie ungläubig. »Warum solltest du klein beigeben?«
»Aus zweierlei Gründen. Erstens hattest du das, was hier vor zwölf Jahren geschehen ist, nicht verdient. Ich wollte dich nicht noch einmal auf diese Art und Weise behandeln.« Er wandte seinen Blick kurz von der Straße ab und ließ ihn an ihrem Körper herabgleiten, wobei er bei ihren Brüsten und ihren Schenkeln ein wenig verweilte. »Und den zweiten Grund kennst du ja.«
Diese Wahrheit brachte das Faß zum Überlaufen. Er begehrte sie. Das hatte sie gleich bei dem ersten brennenden Kuß in New Orleans gespürt. Aber er begehrte sie nach den von ihm aufgestellten Regeln. Er wollte sie in ein kleines Haus außerhalb der Gemeinde von Prescott verbannen, damit ihr Verhältnis seine Familie nicht stören würde. So wäre es für ihn am besten, denn auf diese Weise könnte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
»Ich lasse es nicht zu, daß du mich versteckst, als ob man sich meiner schämen müßte«, sagte sie. Ihre Augen leuchteten bitter, während sie starr geradeaus blickte. »Wenn du dich nicht öffentlich mit mir sehen lassen kannst, dann halte dich einfach von mir fern.«
Er schlug mit der Faust gegen das Lenkrad. »Verdammt noch mal, Faith! Die Katze war nicht gerade ein Willkommensgruß. Ich denke an deine Sicherheit! Ja, es stimmt, ich wäre hocherfreut, wenn du in eine andere Stadt ziehen würdest. Meine Mutter macht mich verrückt, aber deswegen will ich ihr noch lange keinen Schaden zufügen. Muß ich mich etwa dafür entschuldigen, daß ich sie trotz allem liebe? Du kannst so etwas wegstecken, sie aber nicht. Und ich bin gänzlich unbescheiden, ich will einerseits ihr Bestes, und dich will ich auch haben. Wenn du umziehen würdest, dann könnten wir eine verdammt befriedigende Beziehung haben, und ich müßte mir keine Sorgen darüber machen, daß ein Wahnsinniger dich verfolgt.«
»Dann überlasse es doch einfach mir, mir Sorgen um mich zu machen.«
Er gab ein frustriertes Schnauben von sich. »Du rückst aber auch nicht einen einzigen Millimeter von deinem Vorhaben ab!«
Wieder mußte sie der Versuchung widerstehen, ihm zu sagen, aus welchen Gründen sie an Ort und Stelle bleiben wollte. Und diese Gründe gingen weit über ihre persönliche Beziehung hinaus. Aber in der Stimmung, in der er sich befand, hätte er ihr ohnehin kein Wort geglaubt.
Sie waren bereits außerhalb der Stadt, und es war nur wenig Verkehr auf der Straße. Schon bald bog er in den schmalen Weg ein, der zu ihrem Haus führte. Es war ihr niemals vorher aufgefallen, wie einsam und leicht angreifbar ihr Haus lag. Sie hatte den Frieden, die Ruhe und die Abgeschiedenheit genossen. Verdammt sollte er sein, dieser unbekannte, unsichtbare Feind, daß er ihr die Freude an ihrer Heimkehr vergällte.
Sie sprach bis zu ihrem Haus kein Wort. Es war bereits später Nachmittag, und die schräge Sonne tauchte das Haus in einen goldenen Schimmer. In sehr kurzer Zeit hatte sie es sich hier heimisch gemacht, war von ihren eigenen Dingen und ihren eigenen Wänden umgeben und von ihrem eigenen Dach beschützt. Hier sollte sie fortgehen? Das lag völlig außerhalb ihrer Vorstellungskraft.
»Beantworte mir eine Frage«, sagte sie, eine Hand bereits am Türgriff. »Ganz abgesehen von meinem Wohnort möchte ich keine Affäre mit dir haben. Verringert das deine Angst um mein Wohlergehen?«
Er hielt sie am Handgelenk im Wagen zurück. Seine Augen waren schwarz vor Wut, aber er beantwortete die beleidigende Frage nicht, sondern focht lediglich ihre Behauptung an. »Ich kann dich dazu bringen, deine Meinung zu ändern«, sagte er leise. »Das wissen wir beide nur zu gut.«
Sie öffnete die Tür, und er ließ sie aussteigen. Er war zufrieden, daß er das letzte Wort gehabt hatte. Das hatte er häufig, dachte sie. Er hatte die Angewohnheit, die Unterhaltung weiter zu treiben, als sie ursprünglich hätte gehen sollen. Ihre einzige Rückzugsmöglichkeit war es zu schweigen.
Sie war sich seiner Anwesenheit in ihrem Rücken bewußt, bis sie sicher ins Haus gelangt war. Er hatte recht, verdammt. Er konnte ihre Meinung ändern, sogar mit nur sehr geringer Anstrengung. Ihre Behauptung war zwar provozierend gewesen, aber keine Lüge. Sie wollte keine Affäre mit ihm – das bedeutete aber nicht, daß sie ihm würde widerstehen können. Wenn er jetzt darauf bestanden hätte, mit ihr ins Haus zu kommen, hätte wahrscheinlich nur ein einziger Kuß ausgereicht, um sie direkt ins Bett zu bekommen. Erst im nachhinein hätte sie es dann bereut.
»Was hast du dir nur dabei gedacht, Gray?« fragte Alex irritiert. »Erst fährst du mit ihr durch die Gegend, und dann streitest du dich direkt vor der Polizeiwache mit ihr. Mein Gott noch mal, die halbe Stadt hat dich gesehen. Und die andere Hälfte hat dich gehört.«
Monica hob den Kopf und blickte ihren Bruder betroffen an. Gray hätte Alex dafür erwürgen können, daß er das Thema vor seiner Schwester anschnitt.
»Ich habe nur versucht, sie zum Umzug zu bewegen«, erwiderte er knapp. Aber auch ohne sie direkt anzusehen, spürte er die Anspannung in Monicas Körper. »Irgend jemand spielt ihr widerliche Streiche. Heute war eine tote Katze in ihrem Briefkasten.«
»Eine tote Katze?« Alex verzog das Gesicht. »Das ist ja ekelhaft. Aber warum saß Faith in deinem Auto?«
»Sie hat mich angerufen, als sie sie gefunden ...«
»Warum hat sie dich angerufen?« fragte Monica vorwurfsvoll.
»Darum.« Gray war sich seiner direkten und sehr unverbindlichen Antwort bewußt, aber es war ihm gleichgültig. »Ich habe Mike angerufen, und er ist zu ihrem Haus rausgekommen. Er wollte, daß wir beide mit auf die Wache kommen, um Fingerabdrücke nehmen zu lassen ...« Monica stieß einen Schrei aus. »Faith war immer noch ganz durcheinander, also habe ich sie gefahren.«
»Warum hat man denn deine Fingerabdrücke genommen?« fragte Monica empört. »Hat sie dich etwa beschuldigt, daß du es getan hast?«
»Nein, aber ich hatte den Karton angefaßt. Mike mußte wissen, welche Fingerabdrücke zu uns gehörten, um die herauszufiltern, die dem elenden Schurken gehören, der das getan hat.«
Monica kaute auf ihrer Unterlippe. »Hat er denn etwas gefunden?«
»Das weiß ich nicht. Als sie mit ihrer Aussage fertig war, habe ich sie nach Hause gefahren.«
»Wird sie denn wegziehen?« fragte Alex.
»Verdammt, nein.« Gray fuhr sich erregt durch das Haar. »Sie schaltet in der Hinsicht mittlerweile ganz auf stur.« Auf stur schalten war nicht der richtige Ausdruck: Sie war von Geburt an stur. Er stieß sich vom Tisch ab und stand auf. »Ich gehe noch aus.«
»Jetzt?« fragte Monica erstaunt. »Wohin denn?«
»Nur ein wenig aus dem Haus.« Er war so unruhig und nervös wie ein Hengst, der eine Stute zwar riechen, aber sie nicht erreichen konnte. Das Blut pulsierte ihm in den Adern und zwang ihn, etwas zu unternehmen, irgend etwas. Es schien ihm, als ob sich ein Sturm zusammenbraute, und das gleichbleibend schöne Wetter machte ihn wahnsinnig. »Ich weiß nicht, wann ich zurück sein werde. Wir gehen die Akten morgen durch, Alex.«
Erstaunt und besorgt beobachtete Monica, wie er das Zimmer verließ. Wieder kaute sie auf ihrer Lippe. Es sah ganz so aus, als ob Gray seine Beziehung zu dieser Devlin noch weiter vertiefte. Sie konnte einfach nicht verstehen, wie er dazu in der Lage war, nach allem Leid, das ihre Familie ihnen bereitet hatte. Und Michael war auch in ihrem Haus gewesen! Monica wollte nicht, daß er irgendwie mit Faith Devlin in Berührung kam. Diese Devlins waren wie Spinnen, sie woben ihre klebrigen Fäden, in denen sich unvorsichtige Männer schnell verfangen konnten.
Alex schüttelte den Kopf und blickte sorgenvoll vor sich hin. »Ich sage deiner Mutter gute Nacht«, erklärte er und ging die Treppe hoch. Noelle hatte sich nach dem Abendessen unter dem Vorwand der Müdigkeit in ihr eigenes Wohnzimmer zurückgezogen. Die Wahrheit aber war die, daß sie sich dort oben einfach wohler fühlte.
Eine halbe Stunde blieb er oben. Monica saß noch immer im Arbeitszimmer, als sie ihn die Treppe herunterkommen hörte. Seine Schritte waren langsamer als die, mit denen er hinaufgegangen war. Er trat in die Tür, und sein Blick blieb an ihr haften. Monica sah auf und starrte ihn entsetzt an. Seine Hand wanderte zum Lichtschalter. Monica erstarrte. Ihr stockte der Atem, als er das Licht ausschaltete.
»Liebling«, sagte er. Und sie wußte, daß die Worte an die Frau im oberen Stockwerk gerichtet waren.
Faith tigerte durch das Haus. Weder ihre Lektüre noch das Fernsehprogramm reizte sie. Trotz ihres Beharrens darauf, hier wohnen zu bleiben, war sie doch viel tiefer verstört, als sie zugeben wollte. Sie mußte sich zwingen, die Küche zu betreten, so stark war die Erinnerung an jenen Karton. Erleichtert registrierte sie den leeren Tisch. Die Erinnerung verschwamm etwas, als sie sich eine kleine Mahlzeit bereitete. Aber wie wenig es auch immer war, sie konnte nur die Hälfte essen.
Sie rief Renee wieder an. Sie wußte, daß es zu früh war, aber ein fast verschütteter Instinkt lenkte sie in Richtung ihrer Mutter. Es war nicht Trost, den sie suchte. Vielmehr war es eine Verbindung, die über die familiären Bande noch hinausging: die Männer der Rouillards.
Zu ihrer Erleichterung nahm Renee selbst das Telefon ab. Wenn ihre Großmutter geantwortet hätte, so hätte sich Renee niemals an den Apparat locken lassen.
»Mama«, sagte sie und war über ihre eigene, zittrige Stimme beunruhigt. »Ich brauche Hilfe.«
Am anderen Ende wurde es still, dann sagte Renee müde: »Was ist denn los?« Mütterliche Sorge war für sie nicht die normale Reaktion.
»Jemand hat eine tote Katze in meinen Briefkasten gelegt, und ich habe ein paar Drohbriefe bekommen. Ich soll nicht weiter Fragen stellen, sonst würde ich wie die Katze enden. Ich weiß nicht, wer das macht ...«
»Was denn für Fragen?«
Faith zögerte, weil sie befürchtete, daß Renee auflegen könne. »Über Guy«, gab sie zu.
»Verflucht noch mal, Faith!« schrie Renee. »Ich habe dir doch gesagt, daß du deine Nase da nicht hineinstecken sollst. Aber nützt es was? Nein, du mußt den ganzen Mist wieder aufwühlen, und jetzt wird dir von dem Geruch übel. Du setzt dein Leben aufs Spiel, wenn du nicht endlich den Mund hältst!«
»Jemand hat Guy umgebracht, nicht wahr? Und du weißt, wer es war. Deshalb bist du fortgegangen.«
Renees schneller, stoßweiser Atem war deutlich durch die Leitung zu hören. »Misch dich da nicht ein«, bettelte sie. »Ich kann es dir nicht sagen. Ich habe geschworen, es niemals irgendwem zu sagen. Er hat mein Armband. Er hat gesagt, er würde den Mord auf mich schieben, wenn ich jemals etwas erzählen würde. Er hat gesagt, daß er das Armband so hinlegen würde, daß es so aussähe, als ob Guy und ich uns gestritten hätten und ich ihn dann umgebracht hätte.«
Nach Wochen der Vermutungen, nachdem sie allen Gerüchten nachgegangen und immer in einer Sackgasse gelandet war, war die plötzliche Wahrheit erschreckend. Es dauerte einen Augenblick, ehe Faith sich von dem Schock erholt hatte.
»Du hast Guy geliebt«, sagte sie überzeugt. »Du hast ihn nicht umgebracht.«
Renee fing zu weinen an. Es war kein lautes Schluchzen, um Mitleid zu erwecken. Tränenerstickt sagte sie: »Er war der einzige Mann, den ich je geliebt habe.« Gleichgültig ob sie Guy wirklich geliebt hatte oder nicht, Renee glaubte, daß sie es getan hatte. Und das war genug.
»Was ist denn passiert, Mama?«
»Das kann ich nicht sagen ...«
»Mama, bitte.« Verzweifelt suchte Faith nach einem Grund, der auch Renee einleuchten würde. Es wäre einiges vonnöten, um den Egoismus ihrer Mutter zu bezwingen, und in diesem Fall konnte Faith es ihr gar nicht verübeln, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnahm. Was aber immer schon ihre Egozentrik überragt hatte, war ihre Habgier. »Mama, hier in der Stadt glaubt man, daß Guy noch am Leben ist. Er ist nicht für tot erklärt worden, also hat man sein Testament auch noch nicht verlesen.«
Renee schniefte, aber das Wort 'Testament' ließ sie aufmerken. »Ja und?«
»Wenn er dir etwas hinterlassen haben sollte, dann wäre es in seinem Testament. Du hättest all die vergangenen Jahre schon viel Geld haben können.«
»Er hat immer gesagt, daß er mich versorgen würde.« Ein weinerlicher, selbstmitleidiger Tonfall schlich sich in Renees Stimme. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Faith konnte fast hören, wie sie ihre Entscheidung fällte.
»Wir haben uns wie immer im Sommerhaus getroffen«, sagte sie. »Wir hatten schon ... na, du weißt schon. Hatten es schon getan. Jedenfalls lagen wir zusammen im Dunklen, als er vorfuhr. Wir wußten nicht, wer es war. Guy sprang auf und zog sich die Hosen über, denn er hatte Angst, es sei eines seiner Kinder. Wegen seiner Frau hätte er sich keinerlei Gedanken gemacht, denn er wußte, daß es ihr gleichgültig war.
Sie gingen in das Bootshaus, um zu reden. Ich hörte, wie sie sich anbrüllten, habe mich also auch angezogen und bin dorthin gegangen. Gerade als ich ankam, öffnete Guy die Tür. Er hielt inne und drehte sich um. Ich werde niemals vergessen, was er gesagt hat. Er sagte: »Ich stehe zu meiner Entscheidung.« In dem Augenblick knallte der Schuß und traf ihn direkt in den Kopf. Er fiel vor dem Bootshaus ins Gras. Ich fiel neben ihm auf die Knie und schrie und weinte, aber er war schon tot, noch bevor er den Boden berührte. Er hat noch nicht einmal gezuckt.«
»War es Gray?« brachte Faith mühsam hervor. Nein, das konnte nicht sein. Nicht Gray. Aber sie mußte die Frage stellen. »Hat Gray seinen Vater umgebracht?«
»Gray?« fragte Renee erstaunt. »Nein, nicht Gray. Er war gar nicht da.«
Nicht Gray. Danke, lieber Gott. Nicht Gray. Egal wie oft sie sich gesagt hatte, daß er es nicht gewesen sein konnte, irgendwo mußten doch noch letzte Zweifel geblieben sein, denn jetzt fühlte sie sich augenblicklich erleichtert.
»Mama ... Mama, niemand würde annehmen, daß du Guy umgebracht hast. Warum bist du denn nicht zur Polizei gegangen?«
»Bist du verrückt geworden?« Renee stieß ein scharfes Lachen aus, das sich in Tränen auflöste. »In der Stadt hätten die Leute alles über mich geglaubt. Den meisten hätte meine Festnahme sogar gefallen, selbst wenn sie von meiner Unschuld überzeugt gewesen wären. Außerdem hatte er schon alles geplant ...«
»Aber du hattest doch noch nicht einmal eine Waffe!«
»Mich wollte er auch noch umbringen! Er sagte, er würde die Pistole in meinen Mund stecken und mit seiner Hand über meiner den Abzug ziehen, wenn ich ihm nicht schwören würde zu verschwinden, nie wieder zurückzukommen und niemandem gegenüber auch nur ein Wort darüber zu sagen. Er ist stark, Faithie, stark genug, um so etwas zu tun. Ich habe versucht, mich gegen ihn zu wehren, aber er hat mich geschlagen. Ich konnte ihn nicht abwehren.«
»Und warum hat er dich nicht umgebracht?« fragte Faith, die sich fragte, warum ein Mörder freiwillig eine Augenzeugin laufen ließ.
Renee konnte nicht gleich antworten, denn sie weinte hemmungslos. Schließlich schluchzte sie auf und fand mühsam ihre Stimme wieder. »Er ... er wollte Guy nicht erschießen. Er war bloß so verdammt wütend, hat er damals gesagt. Er wollte mich nicht auch noch umbringen. Er sagte, ich solle mich aus dem Staub machen. Und er hat mein Armband behalten. Wenn ich jemals zurückkommen sollte, dann würde er es so hindrehen, als ob ich Guy ermordet hätte. Ich würde dann die Todesstrafe bekommen. Und das macht er auch, du kennst ihn nicht!« Ihre Stimme war am Schluß ganz schrill, dann löste sie sich wieder in Schluchzen auf.
Faith fühlte, wie ihr die Augen brannten. Zum ersten Mal empfand sie Mitleid mit ihrer Mutter. Arme Renee, keine Schulbildung, keinen gesellschaftlichen Einfluß oder Freunde, ihr ganzes wildes Leben und ihre Sorglosigkeit waren ideal für jemanden, der sie als Prellbock benutzen wollte. Der eine Mann, den sie liebte und von dem sie finanziell abhing, war vor ihren Augen erschossen worden. Und dann hatte man ihr auch noch gedroht, sie für den Mord zu belangen. Der Killer hatte sie wirklich geschickt geknebelt, denn unter keinen Umständen würde Renee zur Polizei gehen. Sie hätte ihm alles geglaubt, und vermutlich sogar zu recht.
»Ist schon gut, Mama«, sagte sie leise. »Ist schon gut.«
»Du ... du wirst nichts sagen? Es muß unser Geheimnis bleiben, sonst läßt er mich verhaften. Ich weiß, daß er es tun wird.«
»Ich werde dich von niemandem verhaften lassen, das verspreche ich dir. Weißt du, was er mit der Leiche gemacht hat?«
Renee bekam einen Schluckauf, so überrascht war sie. »Seine Leiche?« fragte sie abwesend. »Ich nehme an, daß er sie irgendwo verscharrt hat.« Das war schon möglich, aber würde ein Mörder soviel Zeit verschwendet und ein Grab gegraben haben? Ein Grab, auf das man hätte aufmerksam werden können? Und das, wo doch der See gleich daneben lag? Man mußte den Körper nur mit einem Gewicht beschweren, und das Problem der Leiche war gelöst.
»Was für eine Waffe hat er benutzt? Hast du das erkennen können?«
»Ich habe keine Ahnung von Waffen. Es war eine Pistole, mehr kann ich dir nicht sagen.«
»War es ein Revolver, so wie in den Western, mit der Patronenkammer, wo die Kugeln hineinpassen? Oder hatte sie einen Abzug im Griff?«
»Ja, genau, einen Abzug im Griff«, sagte Renee, nachdem sie einen Augenblick überlegt hatte.
Eine automatische. Das bedeutete, daß die Patronenhülse sich gelöst hatte und irgendwo im Bootshaus herumliegen mußte. Der Mörder mußte sich um die Leiche kümmern und die Zeugin zur Flucht überreden. Hatte er dann noch an die Hülse gedacht, war zurückgekommen und hatte sie aufgehoben?
Welche Aussichten hatte sie, daß sich eine Patronenhülse nach zwölf Jahren immer noch dort befand? Nur äußerst geringe. Aber nach Guys Verschwinden war der Ort nur noch selten benutzt worden, das Bootshaus war also sicherlich nur den nötigsten Aufräumaktionen ausgesetzt gewesen. Die Hülse konnte in das Boot gefallen sein, oder sogar ins Wasser, wo sie auf immer und ewig verloren wäre.
Sie konnte aber auch in einer Ecke gelandet sein.
»Bitte laß die Sache ruhen«, bettelte Renee. »Bitte. Du hättest nicht dorthin zurückziehen sollen, denn jetzt ist er dir hinterher. Geh fort, bevor dir etwas zustößt. Du kennst ihn nicht!«
»Wer ist er denn, Mama? Vielleicht kann ich ja etwas unternehmen ...«
Renee unterbrach die Verbindung mitten in einem Weinkrampf. Faith legte langsam den Hörer auf. Heute nacht hatte sie so viel erfahren, und doch war es immer noch nicht genug. Das Wichtigste jedoch war, daß sie Grays Unschuld jetzt sicher sein konnte. Und am schlimmsten fand sie, daß sie immer noch nicht herausgefunden hatte, wer der Schuldige war.
Der Mörder war ein 'er'. Damit entfielen Andrea Wallice und Yolanda Foster, von deren Unschuld Faith ohnehin überzeugt war. Lowell Foster hatte zwar erst später von der Liebschaft seiner Frau mit Guy erfahren, aber so wie sich der Klatsch in diesem Nest ausbreitete, wäre es durchaus möglich, daß ein Übereifriger sich erboten hatte, den gehörnten Ehemann zu informieren. Daß der gehörnte Ehemann derweil mit seiner Sekretärin schlief, tat nichts zur Sache. Lowell mußte also weiter auf ihrer Liste bleiben.
Wer aber hätte sich in jener Nacht mit Guy streiten sollen und warum? Ein aufgebrachter Geschäftspartner? uys Persönlichkeit nach zu urteilen war ein betrogener Ehemann jedoch wahrscheinlicher. Mit wem hatte er in dem besagten Sommer denn noch geschlafen?
Die Antworten auf diese Fragen konnte Faith an diesem Abend nicht mehr finden. Sie konnte jedoch selbst feststellen, ob eine lose Patronenhülse irgendwo in dem Bootshaus herumlag. Sie blickte auf die Uhr. Es war halb zehn. Für ein solches Vorhaben war nachts die beste Zeit. Die Chance, Gray in die Arme zu laufen, war dann viel geringer als am Tage.
Faith gehörte nicht zu denen, die eine einmal gefällte Entscheidung hinauszögerten. Diesmal jedoch ließ sie sich immerhin genügend Zeit, um sich festeres Schuhwerk anzuziehen. Auf dem Weg zur Haustür griff sie noch nach einer Taschenlampe.
Sie wollte gerade nach rechts in die kleine Privatstraße einbiegen, die zum Sommerhaus führte, als sie in letzter Minute ihre Meinung änderte. Jemand konnte sie dabei beobachten und die Rouillards alarmieren, und das wollte sie unbedingt vermeiden. Wenn sie das Glück heute zum zweiten Mal verlassen sollte und jemand im Sommerhaus war, dann wollte sie mit ihren Scheinwerfern nicht schon im voraus eine Warnung abgeben.
Sie fuhr also zu demselben Ort, an dem sie auch das letzte Mal geparkt hatte, obwohl sie von dort aus fast zwei Kilometer durch den Wald laufen mußte. Aber das war kein Problem für sie. Sie hatte sich niemals vor der Dunkelheit oder vor den Tieren des Waldes gefürchtet. Dennoch suchte sie sich zur Sicherheit einen Stock, falls sie auf eine Schlange stoßen sollte, bevor diese scheue Kreatur sich vor ihr versteckt hatte.
In der Nacht war es laut im Wald und voller Betriebsamkeit. Waschbären kletterten auf den Bäumen, Eulen riefen, Frösche quakten, Insekten schwirrten herum, Nachtvögel schlugen und Zikaden zirpten wie verrückt. Der Wind trug zu der Kakophonie noch seinen Teil bei, die Kiefern wiegten sich sacht in der Brise. Faith ließ sich Zeit und achtete darauf, daß sie den Weg nicht verlor. Als sie einen kleinen Bach an genau der gewohnten Stelle kreuzte, mußte sie über die Genauigkeit ihres Ortssinns lächeln. Sie ließ das Licht der Taschenlampe über das Wasser gleiten, um sicherzugehen, daß dort nicht gerade jetzt eine Wasserschlange ihr Bad nahm. Dann hüpfte sie auf einen flachen Stein mitten im Bach und von dort aus an das andere Ufer. Von hier aus waren es nur noch ein paar hundert Meter bis zum Sommerhaus.
Fünf Minuten später hielt sie am Rande der Lichtung inne und überblickte erst einmal das Terrain, bevor sie den Schutz der Bäume verließ. Das Haus war dunkel und ruhig. Sie horchte, hörte aber nur die ganz normalen nächtlichen Geräusche. Das Wasser schwappte gegen den Bootssteg, die glatte Oberfläche des Sees kräuselte sich hier und da, wobei das Spiegelbild des fast vollen Mondes sich verzerrte. Nachtaktive Fische schlugen ihre eigenen Kreise und trugen durch gelegentliches Springen zu den nächtlichen Geräuschen bei.
Auf leisen Sohlen lief Faith den Hang zum Haus hinunter. Was sollte sie tun, wenn das Bootshaus abgeschlossen war? Das wäre wahrscheinlich der Fall, obwohl sie das Sommerhaus selbst neulich unverschlossen gefunden hatte. Aber damals war auch Gray dagewesen. Er hatte das Haus geöffnet und vermutlich dort nach dem Rechten gesehen.
Wenn sie eine richtige Abenteuerin wäre, dann würde sie sich von geschlossenen Türen nicht abhalten lassen und unter dem Eingang zum Bootshaus hindurchtauchen.
Aber sie war keine solche Abenteuerin.
Nächtliches Unterwasserschwimmen war nicht ihre Sache. Allein bei dem Gedanken, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen und unter die dunkle Oberfläche des Sees zu tauchen, bekam sie eine Gänsehaut. Wenn das Bootshaus wirklich all die Jahre über ungenutzt gewesen war, dann wurde es jetzt vermutlich von Mäusen, Schlangen, Eichhörnchen und vielleicht dem einen oder anderen Waschbären bewohnt, die sich alle über einen plötzlichen Besucher erschrecken würden. Sie würde den Bewohnern dort lieber ausreichend Warnung zukommen lassen, indem sie an der Tür rüttelte oder vielleicht ein Fenster einschlug, wenn es denn dort ein Fenster geben sollte. Ihr war bisher allerdings keines aufgefallen.
Das Bootshaus hob sich hell vor dem glitzernden schwarzen Wasser ab, die weißen Wände sahen im Mondlicht gespenstisch aus. Als Faith den Kiesweg hinauflief, ließ sie ihre Taschenlampe über die breiten Türen gleiten. Enttäuscht seufzte sie auf. Ein dickes, glitzerndes Stahlvorhängeschloß sicherte die Tür. Ein ganz normales Schloß hätte sie vielleicht aufbekommen, aber vor diesem hier mußte sie passen. Ihr einziger Ausweg wäre ein Fenster.
An der Stegseite jedoch war keines, nur eine glatte Wand. Sie lief auf die andere Seite und starrte mit gemischten Gefühlen zu dem Fenster hinauf, das wie ein schwarzes Auge in einem blassen Gesicht wirkte. Immerhin gab es ein Fenster, bei dem sie die Scheibe hätte zerschlagen können. Aber andererseits endete der feste Boden gerade so, daß sie nicht direkt darunter stehen konnte. Das Fenster lag außerdem so hoch, daß sie sich nur mit Mühe hätte hinaufhangeln können. Mit etwas gutem Willen war es zwar nicht unmöglich, aber doch recht schwierig.
Eine sehr warme, sehr feste Hand schloß sich um ihren Oberarm und wirbelte sie herum. Sie prallte gegen einen muskulösen, festen Körper. »Ich habe dir doch gesagt, was ich tun werde, wenn ich dich hier noch einmal antreffe«, sagte Gray leise.